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Per Lutum Ad Astra

Science Fiction; Rubrik: Querdenken

Dr. Täschner wurde allgemein für verrückt gehalten. Ende dreißig, spezialisiert auf anaerob stickstoffabbauende Abwasserbakterien, sogenannte Anammoxiden, suchte er sich sein Büro ausgerechnet auf der Spitze eines Versuchsreaktors der Kläranlage Hannover-Herrenhausen. Der Reaktor hatte eine Höhe von fast vierzig Metern, war quietschblau lackiert, und der kleine stahlverbrämte Glaskasten an der Spitze bot dem irren Täschner gerade mal genug Platz für sich, sein Telefon, den Laptop und einen Kaffeebecher – wenn er nicht zu viel aß, in dem Fall musste der Becher draußen bleiben.
     Seitdem vor über zehn Jahren die genetische Struktur von Candidatus Anammox kuenenii – liebevoll CAK genannt – entschlüsselt worden war, und es gelang, die sehr langsam wachsenden CAKs mit einem Strang E. coli zu versehen und so ihre Verdopplungsrate von vierzehn Tagen auf nicht ganz vierzehn Minuten zu senken, war sowohl der "Candidatus" Geschichte, als auch die Zeit der über dreißig Meter hohen Anammox-Reaktoren. Das Ganze lief seitdem parallel zu den übrigen anaeroben Prozessen im Durchlaufbecken und CAK wurde zu einem liebevollen Anachronismus, einer Erinnerung an die Anfänge der Abwasserrevolution. 
     Nur war die mittlerweile abgeschlossen und der verrückte Täschner hatte das wohl nicht mitbekommen. Zumindest war das die Ansicht der meisten seiner Kollegen in Mikrobiologie und Siedlungswasserwirtschaft. Von den Technikern vor Ort mal ganz zu schweigen, schließlich wusste keiner so genau, was der Typ da oben mit den Anammöxen auf seinem fensterbankgroßen Versuchstisch so trieb. 

Der kleine Versuchsreaktor war nur etwa zehn Zentimeter groß, nach etwas über vier Tagen intensivster Pflege war die CAK-Konzentration auf dem erreichbaren Höchstwert angelangt, und Täschner bereitete sich auf den entscheidenden Moment seines langersehnten und akribisch durchkalkulierten Experiments vor. 
     Er leitete den trocknenden – und das CAK-Wachstum hemmenden – Sauerstoffstoß durch den Reaktor, den er gleichzeitig vorsichtig erwärmte. Die Zündvorrichtung war eigentlich erstaunlich einfach, was während der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts halt eben so möglich war. Täschner hatte sie aus den Online-Datenbeständen des Smithsonian Institutes heruntergeladen und keine Schwierigkeiten gehabt, sie nachzubauen. 
     Er wartete. Die Augen starr auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr gerichtet. Er legte den Schalter exakt zur vorberechneten Zeit um. 
     Nichts passierte. Die schokoladenbraune Oberfläche des sorgfältig oxygenisierten CAK-Schlammes in seinem Versuchsreaktor rührte sich nicht. Draußen wehte ein leichter Frühsommerwind und sorgte dafür, dass die Dunstglocke der nun schon seit Jahren an ihrer Belastungsgrenze operierenden KA Herrenhausen-2 ihn nicht weiter belästigte. Täschners Gesicht wurde zunehmend länger. Er wollte es nicht glauben. Die Konzentration des angereicherten Hydrazins, des Schlüsselelements in der Anammox-Reaktion innerhalb der reinen Anammox-Biomasse... Er konnte sich nicht verrechnet haben, oder doch? Er– 
     Die mattschimmernde Oberfläche wölbte sich auf, spannte, und– 
     Plopp. Nie war jemand über ein Gesicht voller Scheiße so glücklich. Er hatte recht gehabt. Er– 

Es wurde nie zufriedenstellend geklärt, was das Einblasen der Sauerstoffreserven in den Reaktor und die anschließende elektrische Entladung ausgelöst hat. Die gängigen Erklärungen reichen von einem unglücklichen Zufall, über eine paradoxe Rückkopplung im örtlichen WLAN, das Täschners Computerdaten auf den Universitätsserver überspielte und dann angeblich an die semi-autarke KI des Klärwerks zurücksendete, bis hin zu christlichen Fundamentalisten und Agenten einer Geheimorganisation auf Alpha Zentauri, die „die verschissene Nachbarschaft“ fürchteten. 
     Wie auch immer, die Detonation der Hydrazin-Schlammblase unter Täschners Füßen riss die massive Stahlkonstruktion des Anammox-Reaktors aus ihrer Verankerung und beschleunigte sie in nahezu perfektem Anstiegswinkel. 
     Dr. Täschner lebte lange genug, um die Bestätigung seines Traums noch mit eigenen Augen zu sehen, bevor Beschleunigung, Sauerstoffmangel und die Kälte des Vakuums seine Existenz beendeten. 

Heute, fünfundzwanzig Jahre später, gibt es kaum eine Kläranlage auf dem Gebiet der Europäischen Union, die nicht das begehrte Siegel "sponsored by ESA" auf ihren Reaktoren aufweist und der "Täschnereffekt" ist aus der zivilen Raumfahrt nicht mehr wegzudenken. Zahlreiche Städte und Gemeinden widmeten ihm ihre Kläranlagen oder ernannten ihn gar zum Ehrenbürger, posthum, versteht sich. 
     Die Stadt Hannover ist jedoch noch immer nicht bereit, ihrem ruhmreichen Sohn ein Denkmal zu setzen, und so heißt die Flaniermeile immer noch "Nici de Saint Phalle Promenade" und die neu errichtete Klär- und Raumfahrtanlage heißt schlicht KRA-28. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis die niedersächsische Landeshauptstadt Täschner die weiträumige Überflutung mit 275.000 Kubikmetern nur unwesentlich vorgeklärter Abwässer verzeihen wird. 

Die erfolgreiche Landung der Feka-1 auf dem Mars, die von der Herrenhausen-13 immerhin in den Orbit gehievt wurde, wird dennoch durch einen Festakt vor dem – seit damals mehrfach – renovierten Landtag begangen. 

~epa 

verfasst von Ann-Kathrin Kniggendorf am 22. 11. 2005  
(inspiriert von einem Vortrag im Biophysikalischen Seminar am Institut für Biophysik.) 

Abschließende Anmerkungen: 

1. „Per Lutum Ad Astra“ 
Latein, in etwa „Durch Scheiße zu den Sternen“ 
mit lutum = Kot, Dreck, Schmutz, Schlamm 

2. Dr. Täschner 
ist frei erfunden. Sollte eine reale Person dieses Namens existieren oder existiert haben, so ist sie in keinster Weise mit dieser frei erfundenen Geschichte assoziiert. Sollte in Zukunft ein Dr. Täschner existieren, der das Klärwerk Herrenhausen sprengt, so erwarte ich umfassende Untersuchungen hinsichtlich des Themas „Zufall und Prekognition“ bevor ich irgendeinen Zusammenhang zugebe oder abstreite. 
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besitzt der Dr. Täschner dieser Geschichte nur eine Vorlage: einen gezeichneten Charakter mit Promotion in der Badewanne von Loriot. 

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